01. Oktober
Andrea Pietras – Eine Birklehoferin für Europa
„Der Birklehof ist das Beste, was mir je passiert ist.“ Mit diesem Satz begrüßt die Homepage unserer Schule ihre Besucher – und auch wenn Andrea Pietras (Abitur 1989) das heute voll und ganz unterschreiben würde, war ihr Weg dorthin alles andere als geradlinig.
Als ihre damalige Schule kaum noch Perspektiven bot, suchte die Familie nach Alternativen uns stieß auf einen Artikel über den Birklehof in einem Magazin. Das Internat machte einen vielversprechenden Eindruck – und so vereinbarte man ein erstes Kennenlerngespräch mit dem damaligen Schulleiter Götz Plessing. Doch der Funke wollte nicht sofort überspringen: Andrea traf bei ihrem Besuch keine Schülerinnen und Schüler, bekam kaum Einblick in den Alltag – und sagte zunächst ab. Zu Beginn der 12. Klasse, im Jahr 1987, entschied sie sich schließlich doch für den Birklehof, und bereut heute nur eines: dass sie nicht schon früher hingegangen ist.
Es sei kaum möglich, die Zeit am Birklehof auf nur wenige Erinnerungen zu reduzieren, sagt Andrea. Viele Erlebnisse sind ihr bis heute besonders lebendig im Gedächtnis geblieben: die außergewöhnliche Studienfahrt nach Polen mit Herrn Plessing, Skifahren nach dem Mittagessen und am Wochenende, Opern- und Theateraufführungen, Segeln auf dem Schluchsee, Klettern, der Turmkeller, Spaghetti im Wasserkocher aufbereiten, Gespräche und Diskussionen, und die Geschichte der roten Jacke – ein Symbol für den besonderen Zusammenhalt unter den Schülerinnen und Schülern.
Während andere Gruppen nach Paris, Neapel oder England reisten, machte sich Herr Plessing mit sieben Jugendlichen, dem alten Schulbus und einem Zeltanhänger im Frühjahr 1988 auf den Weg nach Polen. Die Reise führte die Gruppe unter anderem auf den Hof eines oppositionellen Bauern, der später Parlamentsabgeordneter wurde, und in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – begleitet von einem Überlebenden, dessen Lebensgeschichte alle tief bewegten. Auch war die Reise für viele die erste unmittelbare Begegnung mit einem politischen System des Ostblocks – mit leergefegten Läden, staatlicher Kontrolle und kontrollierten Medien. Auch der Rückweg brachte ein Erlebnis: Irgendwo auf einer Landstraße in der ehemaligen DDR überlies Herr Plessing das Steuer einer Schülerin – sie war die Einzige, die schon einen Führerschein besaß. Kaum hatte sie das Steuer übernommen, wurde der Schulbus von einem Volkspolizisten gestoppt. Dieser verlangte den Führerschein aber nach einem kurzen Blick auf das Dokument winkte er die Gruppe weiter. Womöglich war es der in Äthiopien erworbene Führerschein, der die Gruppe vor einer unangenehmen Situation bewahrte.
Rückblickend sind es für Andrea aber nicht nur die großen Reisen und AGs und Aufführungen, die im Gedächtnis geblieben sind – sondern auch die kleinen Gesten. Wie die Geschichte einer roten Jacke, die für sie zum Symbol gelebter Solidarität am Birklehof wurde. Eine Gruppe Jugendlicher wurde beim „Aussteigen“ beobachtet – doch niemand konnte genau sagen, wer beteiligt gewesen war. Das einzige erkennbare Detail: eine auffällige rote Jacke. Um den Besitzer zu schützen, trug daraufhin jeden Tag ein anderer Schüler oder eine andere Schülerin die Jacke. Niemand konnte mehr sagen, wem sie gehörte. Die Jacke wurde zu einem stillen Zeichen von Zusammenhalt und Loyalität.
Als Andrea 1989 ihre Abiturprüfungen am Birklehof ablegte, hatte sie zunächst noch keine klare Vorstellung davon, welchen beruflichen Weg sie einschlagen wollte.
Ein Schüleraustausch, wie ihn einige ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler gemacht hatten, war durch ihren späten Wechsel nicht mehr möglich. Doch diese Erfahrung wollte sie unbedingt nachholen – und so ging sie nach dem Abitur für neun Monate als Assistant Teacher an die befreundete Round-Square-Schule Box Hill School in England. Dort unterrichtete sie Sport und Deutsch als Fremdsprache (DaF), organisierte Kulturveranstaltungen, begleitete Ausflüge und unterstützte die Schülerinnen und Schüler bei ihren Aufgaben. Eindrücklich waren Unterschiede zum Birklehof: etwa die Tatsache, dass die Schülersprecher nicht gewählt, sondern vom Kollegium bestimmt wurden, die damals strengen Schuluniformregeln – und der morgendliche Appell für das gesamte Internat.
Zurück in Deutschland schrieb sich Andrea für Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte ein und begann, als wissenschaftliche Hilfskraft für einen Abgeordneten zu arbeiten. Die rund 700 Kommilitoninnen und Kommilitonen ihres Jahrgangs waren eine große Umstellung im Vergleich zu den kleinen Klassen am Birklehof.
Nach einem Austauschsemester in Frankreich stand für sie fest: Sie wollte ihr Studium im Ausland fortsetzen. Und so ging sie für zwei Jahre nach England, studierte European Politics an der University of Oxford und fühlte sich in der internationalen, aber zugleich familiären Atmosphäre am St. Antony’s College sofort wieder wie zu Hause.
Da internationale Abschlüsse damals in Deutschland kaum anerkannt wurden, bewarb sich Andrea bei der Europäischen Kommission. Sie arbeitete zunächst für die EU-Delegation in Slowenien und später für die EU-Delegation in Polen. Gerade nach den Erfahrungen auf der Studienreise war es für sie besonders spannend, den Weg dieser Länder in die EU aus nächster Nähe mitzuerleben und mitzugestalten. Nach acht Jahren verließ Andrea die Europäische Kommission und war zunächst als Academic Administrator am Europakolleg in Natolin (Polen), später als Senior Country Officer bei der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) in Brüssel tätig. Nach sechs Jahren bei der EFTA zog es sie zurück in die akademische Welt – diesmal nach Cambridge, wo sie erfolgreich einen Abschluss in International Relations machte. Seit September 2021 ist Andrea wieder für die Europäische Kommission tätig.
Was sie an ihrer Arbeit besonders schätzt? Die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus allen EU-Mitgliedsstaaten – und die klare gemeinsame Aufgabe: sich für Frieden, Prosperität und Freiheit zu engagieren.
Auch auf die Frage, was sie für ihre heutige Arbeit am Birklehof gelernt hat, muss Andrea nicht lange überlegen: Teamarbeit – angefangen bei der Einbeziehung aller Beteiligten, über ein gutes Klima im Miteinander bis hin zur Fähigkeit, sich auch einmal zurückzunehmen. Und: ein respektvoller, aber gleichzeitig ungezwungener Umgang mit Vorgesetzten.
Als Mutter einer aktuellen Birklehof-Schülerin verfolgt Andrea das Leben an unserer Schule heute wieder aus nächster Nähe. Vieles habe sich positiv weiterentwickelt: das MINT-Profil, das sie selbst vielleicht gewählt hätte, die Erfahrungen aus dem internationalen Jugendprogramm The Duke of Edinburgh’s Award, die Möglichkeit, Sprachzertifikate wie das Cambridge Certificate zu erwerben – und das Berufsberatungswochenende, bei dem sie selbst regelmäßig mitwirkt.
Doch eines sei unverändert geblieben: die besondere Verbundenheit der Birklehoferinnen und Birklehofer – über Generationen hinweg. Und das Gefühl, dass man beim nächsten Wiedersehen genau da weitermachen kann, wo man beim letzten Mal aufgehört hat. In diesem Sinne freuen wir uns schon auf das nächste Treffen mit Andrea.


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